Nach unserem Ägypten-Urlaub ging es für Lydia mit der 11. Klasse weiter. Das neue Schuljahr begann ziemlich stressig. Lydia hatte plötzlich Probleme mit ihrer Schrift. Sie wusste nicht warum. Sie machte sich große Sorgen um ihre Klausuren. Lydia hatte Angst, dass die Lehrer ihre immer kleiner werdende Schrift nicht mehr lesen könnten. Sie war verzweifelt, weil sie ihr Wissen nicht mehr wie gewohnt, aufs Papier bringen konnte. Mit Hilfe ihrer Tutorin besprachen wir das Problem und Lydia erhielt für die kommenden Klausuren einen Laptop von der Schule. Im Verlauf der nächsten Monate wurde ihre Feinmotorik immer schlechter, was sich vor allem beim Essen bemerkbar machte. Dazu kamen koordinative Probleme, bei vorher gut beherrschten Sportarten, wie Schwimmen, Radfahren, Aerobic und Skifahren. Sie konnte plötzlich nicht mehr richtig laufen, machte nur noch Trippelschritte. Jede Tür bedeutete ein Hindernis für sie. Die ersten Arztbesuche waren ohne Ergebnis, weil keiner Lydias Problem erkannte. Nach den Weihnachtsferien bestanden wir auf eine Klinikeinweisung, weil wir endlich Gewissheit brauchten, was mit Lydia los ist. Nach 3 Wochen dann die Diagnose:
MORBUS WILSON – eine äußerst seltene Stoffwechselerkrankung.
Ende Januar 2005, Lydia bekam sofort nach Diagnosestellung die ersten Medikamente zur Entkupferung. Wir mieden fortan stark kupferhaltige Nahrungsmittel, wie Innereien, Schokolade, Nüsse, … Lydia war dabei sehr konsequent. Allerdings verschlechterte sich ihr gesundheitlicher Zustand, trotz Medikamenteneinnahme, mit rasanter Geschwindigkeit.
Im Februar 2005 begann Lydias rechter Fuß unwillkürlich zu zucken. Sie spürte einen generellen Kräftenachlass, war ständig müde und erschöpft. Schluckprobleme stellten sich ein und ihre Aussprache wurde immer leiser.
Ab 14.02.2005 konnte Lydia nicht mehr laufen. Für uns brach eine Welt zusammen, aber Lydia tröstete uns mit den Worten: „Das wird schon wieder!“ Sie war plötzlich auf den Rollstuhl angewiesen. Lydia war ein Kämpfer und so startete sie ins 2. Halbjahr der 11. Klasse, im Rollstuhl. Jeder Tag bedeutete nun für sie doppelt harte Arbeit. Einige ihrer Mitschüler mieden sie plötzlich, da sie nicht mehr so wie vorher war.
Bis April 2005 hatte sich in beiden Armen und Beinen ein Tremor entwickelt. Ihre Feinmotorik war inzwischen so schlecht, dass sie nicht mehr allein Zähne putzen, Haare kämmen und sich anziehen konnte. Trinken funktionierte am besten mit einem Trinkröhrchen.
Ab Mai 2005 wurde der Tremor in beiden Beinen immer schlimmer. Lydias Gleichgewichtsverhalten hatte sich so verschlechtert, dass sie nicht mehr allein stehen und sich im Liegen nicht mehr ohne Hilfe drehen konnte. Das Schreiben auf dem Laptop funktionierte, bedingt durch die immer schlechter werdende Feinmotorik, nicht mehr. Ihre Sprache wurde undeutlicher, aufgrund sehr starker Speichelbildung.
Ab Juni 2005 legte Lydia dann ihre Klausuren mündlich ab, da das Schreiben auf dem Laptop gar nicht mehr klappte. Ihre Lern- und Merkfähigkeit hatte zum Glück überhaupt nicht nachgelassen. Lydia war äußerst positiv eingestellt und ihr psychischer Gesamtzustand sehr optimistisch. Jedoch mussten wir die Anzahl der Schulstunden reduzieren, da diese Belastung einfach zu hoch war.
Ganz plötzlich und ohne Vorankündigung erlitt Lydia am 11. Juli 2005 ihren ersten Ohnmachtsanfall. Weitere Anfälle folgten. Selbst zur Zeugnisausgabe am 15.07.2005 brach Lydia auf dem Schulhof zusammen. Sie hatte sich unter schwierigsten Bedingungen, mit einem wahnsinnigen Kraftaufwand und höchstem kämpferischen Einsatz ein wunderbares Zeugnis (Noten-Durchschnitt von 1,4) erkämpft.
Ende Juli 2005 konnte Lydia nur noch unter größten Anstrengungen schlucken, sprechen konnte sie gar nicht mehr.
Ab August 2005 ist Lydia voll zum Erliegen gekommen. Am 11. August 2005 wurde ihr eine Sonde zur Nahrungsaufnahme durch die Nase in den Magen gelegt. So konnte Lydias Ernährung sichergestellt werden. Die Dystonien (Bewegungsstörungen) in Ihren Armen und Beinen hatten weiter an Intensität zugenommen. Lydias Körper kam nicht mehr zur Ruhe. Sie schlief einige Wochen weder tags noch nachts.
Ab 20.08.2005 hatte Lydia depressive Phasen. Dies äußerte sich in immer wiederkehrenden Weinanfällen. Am 25. August wurde, aufgrund ständigen Nasenblutens, die Nasensonde entfernt und eine PEJ (Sonde mit zwei Ausgängen – Magen und Dünndarm) gelegt.
Im September 2005 konnten wir erstmals seit Ausbruch der Erkrankung etwas Positives beobachten. Lydia begann zu sprechen, konnte plötzlich wieder schlucken und einige Schritte mit Unterstützung laufen. Leider gab es aber auch erneut negative Erscheinungen. Intervallartige Muskelkontraktionen beider Arme und Beine machten Lydia zu schaffen. Ihre Hände waren total verkrampft, ihre Beine fast nur noch zur Brust hochgezogen. Sie klagte über Angstzustände.
Am 20. September wurde ihr die Magensonde entfernt.
Ab Oktober 2005 war Lydia psychisch in einer sehr schlechten Verfassung. Sie weinte viel und jämmerlich. Sie hatte Angst vor Fliegen, sah oftmals irgendwelche Bilder. Ihre Sprache wurde wieder schlechter, bis sie schließlich ab Mitte des Monats überhaupt nicht mehr sprechen konnte. Lydia bekam plötzlich ihre Augen nicht mehr allein auf. Die Schluckprobleme kehrten zurück. Trinken ging nur noch mit Trinkröhrchen.
Am 04. November 2005 bekam Lydia erneut eine Magensonde, um die weitere Nahrungsaufnahme zu gewährleisten. Sie wog nur noch 43 kg!
Am 08. November 2005 wurde Lydia wegen einer schweren Lungenentzündung auf die ITS verlegt, in ein künstliches Koma versetzt und beatmet.
Lydia bekam am 14. November 2005 eine Luftröhrenpunktion. Nach dem Erwachen am 15. November setzten sofort die Dystonien in den Armen und Beinen wieder ein.
Ab 18. November 2005 atmete Lydia wieder selbständig.
Am 22. November 2005 wurde Lydia zurück auf die Neurologie verlegt. Nach einem 3-tägigen Aufenthalt auf normaler Station musste Lydia am 25.11.2005 erneut auf die ITS verlegt werden, mit sehr hohem Fieber und anderen Komplikationen. Sie wurde wieder künstlich beatmet. Lydia hatte starke Schmerzen, bedingt durch ihre Dystonien. Sie bekam viele Schmerz- und Beruhigungsmittel. Ihre Lungenentzündung war noch nicht abgeklungen, sie hatte immer wieder hohes Fieber.
Lydia ist nach 3-monatigem Klinik-Aufenthalt, im Februar 2006, endlich wieder zu Hause. Sie wurde spürbar ruhiger, das rechte Bein war jedoch noch sehr aktiv. Erstmals seit Ende November 2005 hatte sie wieder gelächelt. Lydia machte kleine Fortschritte, z.B. Kopf drehen, mit dem Kopf nicken und den Kopf schütteln. Wir setzten sie täglich in den Pflegerollstuhl. Sie hatte auch wieder Interesse am Fernsehen, hörte gern klassische Musik und freute sich immer über Besuch.
Ab März 2006 schlief Lydia endlich wieder gut (Tag/Nacht-Rhythmus). Lydia war froh, zu Hause zu sein. Um sie geistig fit zu halten, rätselten wir regelmäßig mit ihr. Leider bereitete ihr das rechte Bein wieder zunehmend Probleme. Es zog ständig hoch zur Brust. Die Werte vom 24-h-Sammelurin waren stark gesunken. Lydia schied kaum noch Kupfer aus.
Im Mai 2006 weinte Lydia tagsüber wieder häufiger – sie konnte es selbst nicht steuern. Ihre Arme und Finger machten vereinzelte gute Bewegungen. Gewichtsmäßig hatte sich Lydia stabilisiert, jedoch ihr Gesamtzustand stagnierte.
Ab Juni hatten die Dystonien Lydias Körper wieder fest im Griff. Ihre Arme waren angewinkelt, ihre Hände zur Faust geballt. Die Beine zogen fortwährend zum Bauch. Die Fußzehen des rechten Fußes bohrten sich unwillkürlich in das linke Bein. Den Kopf zog es in den Nacken, ihre Augen schauten oftmals nach oben hinten. Sie schwitzte und weinte sehr viel. Im Pflegerollstuhl fühlte sie sich wohler, als im Bett.
Wir freuten uns, dass wir ab Juli 2006 eine neurologische Rehabilitation antreten konnten. Lydia litt unter Ihren extremen Bewegungsstörungen, den damit verbundenen Schmerzen und der sagenhaften Juli-Hitze. Sie kämpfte tapfer bis sie keine Kraft mehr hatte. Sie wurde nur 19 Jahre alt.